Im Hörbuch haben Sie schon einige Reflexions-Spiele kennengelernt, u.a. Shibuya Café, Little Box of Triggers und Schätze heben.
Hier stelle ich Ihnen zwei weitere vor:
Ja-bitte-nein-danke
Das Wertequadrat von Schulz von Thun
Im 1. Spiel geht es um unseren Wortschatz – so ähnelt es dem Spiel Shibuya Café. Anders ist,
dass es hier nicht explizit um Worte geht, mit denen wir unsere Gefühle beschreiben, sondern – genaus andersrum – um die Gefühle, die Worte in uns auslösen.
Im zweiten Spiel geht es um unsere Fähigkeit, Werte etwas dreidimensionaler zu betrachten. Zu oft ist etwas entweder gut oder schlecht.
Wir reagieren intuitiv positiv oder negativ. Aber Werte sind sehr individuell und vielschichtig.
Stellen Sie sich ein Geschenk vor, das Sie gerne erhalten würden. Es muss nichts Großes sein – keine Weltreise, kein Haus, keine Jacht. Aber … warum eigentlich nicht? Erlauben Sie sich den Tagtraum. Was wäre ein Geschenk, das bei Ihnen ein ganz besonders gutes, schönes, belebendes Gefühl auslösen würde?
Jetzt kommt jemand und fragt Sie, ob er Ihnen das schenken darf, was Sie sich da erträumt haben, und Sie sagen „Ja, bitte!“ Wie fühlen sich diese zwei kleinen Worte an?
Ein anderes Beispiel: Arbeit. Etwas muss noch abgearbeitet werden. Sie sind hundemüde. Sie telefonieren und jemand bestätigt Ihnen, dass er Ihnen das Formular, um die Sie gebeten haben, zur Verfügung stellen kann. Sie benötigen dieses Formular – Lust darauf, es zu bearbeiten, haben Sie allerdings nicht wirklich. Er fragt: „Soll ich’s Ihnen jetzt gleich schicken? Per Email?“ – „Ja, bitte.“
Wir sehen: Unsere Reaktionen auf Worte sind situationsbedingt! „Ja bitte“ ist nicht immer positiv und genauso ist „Nein, danke“ nicht immer negativ.
Oft sind es nicht die Worte an sich, sondern der Kontext, in den sie eingebettet sind, der die Gefühle beim Hören der Worte auslöst.
Und doch lösen manche Worte in uns relativ zuverlässig immer ähnliche Gefühle aus. Einige Beispiele:
Glückseligkeit
Anraunzer
Seelenfriede
Corona
Wochenende
Montag
Natürlich gilt das jetzt nicht für alle genau gleich, aber: In dieser Wort-Liste sahen Ihre Affektzustände wahrscheinlich so aus:
Glückseligkeit – positiv
Anraunzer – negativ
Seelenfriede – positiv
Corona – negativ
Wochenende – eher positiv
Montag – eher negativ
Natürlich ist die Eingliederung in positive und negative Affektzustände wie ein viel zu grobkörniges Foto.
Aber keine Sorge: Wenn Sie sich mit Shibuya Café einen differenzierten Gefühlswortschatz angeeignet haben (oder falls Ihrer sowieso schon sehr präzise und differenziert ist), dann geht es jetzt einfach darum, mit ein oder zwei weiteren Personen ganz
nach Laune frei heraus Begriffe in den Raum zu werfen (ok, immer schön gemächlich einen nach dem anderen) und dann in sich hinein zu spüren, was diese Begriffe in Ihnen auslösen.
Man kann diese Begriffe auch vorher auf Karten oder kleine Zettel geschrieben haben, die man dann verdeckt auf einen Haufen legt, von dem man je Runde eine zieht.
1. Ruhe. Nach dem Nennen des Wortes spricht eine Minute keine/r. Jede/r geht in sich, schließt vielleicht sogar die Augen und wiederholt das Wort regelmäßig im Geiste (ca. einmal alle 5 Sekunden), ohne es laut auszusprechen.
2. Konzentration. Achten Sie darauf, dass Sie sich nicht von anderen Gedanken oder Geschehnissen ablenken lassen.
Wer will, kann sich zum Thema DMN-Control nochmal Kapitel 5 anhören, oder den Abschnitt TV, Social Media, Smartphones & andere Dinge, die blinken, leuchten, surren, mit uns reden und „ploink“ machen in Kapitel 3.
3. Beobachten. Anfänglich sollten Sie nicht gleich versuchen, die Gefühle zu benennen, die mit dem Wort auftauchen, das Sie sich wiederholt sagen.
Spüren Sie sie erstmal. Die Gefühle ausdrücken, die passenden Worte finden, ist später dran.
4. Benennen. Nachdem die Ruhe-Minute rum ist, bleiben alle Spieler weiterhin still und versuchen, ihre Gefühle zu benennen.
Manchmal hilft es, sie aufzuschreiben, denn in der Geduld beim Schreibens erinnern wir uns manchmal an Worte, die wir fast nie aktiv gebrauchen.
So gibt Ihnen das Aufschreiben die Gelegenheit, Vokabular aus Ihrem passiven in Ihren aktiven Wortschatz zu heben.
5. Geduld. Wir verwenden auf den Prozess so viel Zeit, weil – für die meisten Menschen – der eilige Blick auf die eigene Gefühlswelt sehr oberflächlich bleibt.
Erinnern wir uns an die sechs Parteien!
Der Großteil der Hirnareale, in denen unsere Gefühle entstehen, ist unserem Bewusstsein nicht zugänglich. Und bewusste Prozesse in unseren Gehirnen sind langsam.
Also nehmen wir uns Zeit, damit wir nicht nur an der Oberfläche kratzen. Damit tiefere Einblicke gelingen können.
Manchmal bringt ein Austausch über die Gefühle, die wir im Zusammenhang mit spezifischen Worten empfinden, Bestätigung.
Worte wie „Freiheit“ und „Glück“ lösen in den Personen, mit denen Sie spielen, vielleicht ganz ähnliche Emotionen aus, wie in Ihnen.
Vielleicht aber auch ganz andere.
Und wenn Sie in einem jetzt möglich gewordenen Gespräch dann erörtern, woher diese Emotionen
wohl kommen, dann sind Sie den Personen, die Ihnen im Leben wichtig sind, wieder einen Schritt näher gekommen.
Abgesehen davon ist eine genauere Reflexion Ihrer Gefühle das Präzisionswerkzeug, mit dem Sie Ihre wirklichen Beweggründe erkennen und Entscheidungsprozesse nachvollziehen können und damit innere Konflikte lösen und Ihre Authentizität stärken.
Davon profitieren alle Gespräche, die Sie führen.
So, jetzt wird’s erst richtig interessant. Eingangs schrieb ich: Unsere Reaktionen auf Worte sind situationsbedingt.
Es gibt also auch Situationen, in denen das Wort, dessen Emotionen Sie gerade für sich erforscht haben, in Ihnen ganz andere Emotionen auslöste. Z.B. im Mund einer Person, von der Sie denken, dass sie es missbrauchte.
Wenn mir vor zweihundert Jahren ein Sklavenhändler etwas von Freiheit erzählt hätte, hätte mich das wahrscheinlich verärgert oder traurig gestimmt, aber nicht die guten Gefühle ausgelöst, die ich sonst mit dem Wort „Freiheit“ verbinde.
Doch viel spannender für unsere Gespräche sind die Worte, die in uns negative Gefühle auslösen. Oft, weil sie unseren Werten widersprechen. Nehmen wir z.B. das Wort „Fanatiker“ – das löst bei den meisten Menschen negative Gefühle aus: Ängste, Widerstreben, Abscheu, bis hin zur Entmenschlichung des Menschen, der sich zu einem Fanatiker entwickelt hat.
Und doch gibt es in dem weiten Feld unserer Lebenserfahrungen immer Ausnahmen.
Eine Situation, in der mich das Wort Fanatiker zum Lachen brachte, erfuhr ich, als ich den ersten Entwurf meines Hörbuchs schrieb.
Ich saß zu der Zeit (2019) oft in meinem Lieblings-Café an der Bismarckstraße und hatte mich mit anderen Stammkunden angefreundet.
Ich war inspiriert und schrieb und schrieb. Da ich aber nie mit 10 Fingern tippen gelernt habe, fliegen beim Tippen meine Hände immer kreuz und quer über die Laptop-Tastatur. Und so kam es wie es kommen musste. Ein Freund begrüßte mich mit: „Na, Du Fanatiker!“
Ich war kurz verdutzt, bis er verspielt meine Handbewegungen beim Tippen nachahmte. Und noch einen fanatisch-intensiven Blick draufsetzte. In meiner Erinnerung sind das spontan aus uns herausbrechende Gelächter und das Wort „Fanatiker“ selbstverständlich verknüpft.
Und so ist jedes Wort situativ bedingt emotional vielschichtig, denn Werte, Bewertungen und unsere Gefühlswelt entstehen nicht aus einem Vakuum heraus, sondern aus dem verwachsenen, üppigen Dschungel unserer Erinnerungen.
Natürlich löst das nicht das Problem, dass es Fanatiker gibt und dass einige von ihnen gewalttätig sind.
Also … was bringt es uns dann, diese Vielschichtigkeit zu erkennen?
Es stärkt unser Vorstellungsvermögen dafür, dass die Welt nicht schwarz-weiß ist, dass unsere Gefühle und Werte nicht absolut sind, sondern die Resultate unserer ganz einzigartigen Lebenswege
und der Erfahrungen die wir gemacht und als Erinnerungen gespeichert haben.
Und es ermöglicht uns, Wertekonflikte in Gesprächen konstruktiver anzusprechen, mit mehr Klarheit. Und sie oft auch aufzulösen, weil wir die tieferen Bedeutungen entheddern können, die sich hinter den Worten verstecken.
Mehr dazu gleich – dann schauen wir uns das Wertequadrat an.
Wie entstehen in unseren Gehirnen Werte und was hat das mit unseren Emotionen zu tun? Hier erfahren Sie mehr darüber:
Monatliche Updates aus Neurowissenschaften, Linguistik und Psychologie: Was machen unsere Gehirne, wenn wir uns unterhalten? Wie entscheiden wir uns, die Aussagen unserer Gesprächspartner positiv oder negativ auszulegen? Sind unsere Einschätzungen und Annahmen dabei immer zielführend? Wie führen wir uns manchmal selbst in die Falle? Wie können wir lernen, mit Menschen umzugehen, die uns regelmäßig auf die Nerven gehen, oder die versuchen, uns zu manipulieren?
Das Wertequadrat wurde von Friedemann Schulz von Thun entwickelt und wird in seinem Buch Miteinander reden: 2 – Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung sehr detailliert beschrieben.
Ich stelle das Wertequadrat hier mit einer spezifischen Problemstellung im Geiste vor: Was passiert, wenn wir die Aussagen oder Handlungen unserer Gesprächspartner mit negativen Werten belegen?
Was ist, wenn uns das dann im Gespräch verärgert oder reizt, wenn es einen Vertrauensverlust bedeutet oder unser Gegenüber in unseren Augen
mindert, vielleicht sogar als Menschen entwertet?
Falls mir mein Gesprächspartner egal ist, schadet mir das nicht – aber dann wäre er oft auch von vornherein kein Gesprächspartner gewesen.
Also gehen wir mal davon aus, ich mochte den Typen oder die Frau eigentlich ganz gern, bin jetzt aber enttäuscht. Vergrämt.
Unsere verschiedenen Wertevorstellungen lassen weitere Gespräche einfach nicht zu. Es bringt nichts. Tja, schade, denn genau so enden Freundschaften, Business-Partnerschaften und Ehen.
Das Ziel wäre also eine bessere Auseinandersetzung mit dem Wertekonflikt. Klar, manche Menschen sind schrecklich, sind Monster, keine Frage. Aber sehr oft machen wir leider auch Menschen, die es gut mit uns meinen, in unseren Köpfen zu Monstern, weil wir so gestrickt sind, wie wir’s eben sind.
Ein Beispiel: Ein Kollege in einer japanischen Firma, in der ich vor 15 Jahren in Tokio arbeitete, machte als Einsteiger viele Überstunden – unbezahlt.
Ich war auch neu in der Firma damals, aber als Deutscher war meine ganz natürliche Reaktion auf die Anforderung unbezahlter und im
Arbeitsvertrag nicht ausgewiesener Überstunden nur eins: laut schallendes Gelächter. Tja, der unangepasste Gaijin eben.
Ich versuchte also meinen Kollegen, mit dem ich auch befreundet war, davon zu überzeugen, dass er keine Überstunden leisten musste. Aber er brachte immer wieder Argumente wie: „Es ist nicht gut, aufmüpfig zu sein“ oder „Ich bin ja nicht der einzige – alle arbeiten sehr hart.“
Ich sagte ihm das zwar nicht ins Gesicht, aber ich empfand sein Verhalten als feige. Klar, wenn keiner aufmuckt, dann werden immer alle geschröpft. Und da ist sie, die Bewertung: Feigling!
Wenn so ein negativer Wert aufploppt – Feigheit –, dann ist das Gift für eine Freundschaft.
Aber ist meine Interpretation objektiv gesehen wahr? Wertekonflikte entstehen so oft und sind so vertrackt, da ist es unwahrscheinlich, dass einfach eine/r Recht hat und eine/r Unrecht.
Damals kannte ich das Wertequadrat und all die Techniken, die ich Ihnen hier und im Hörbuch vorstelle, noch nicht.
Die Geschichte geht also nicht weiter. Wir verloren uns einfach aus den Augen.
Aber aus heutiger Sicht habe ich damals eine Gelegenheit verpasst, ein ganz anderes Gespräch zu führen. Ich wusste nur nicht wie.
Schauen wir uns also mal das Wertequadrat an.
Stellen wir uns einen negativen Wert als das eine Ende einer Skala vor. Am anderen Ende befindet sich eine Stärke oder Tugend. So könnte man das was der eine „Feigheit“ nennt, u.U. auch als „Vorsicht“ beschreiben. Im Sinne dieser Skala ist die Feigheit also eine „übertriebene Vorsicht“.
In Schulz von Thuns Standardformat steht die Tugend/Stärke (hier: Vorsicht) im Wertequadrat oben links, die Schwäche/Untugend (hier: Feigheit) unten links.
Jetzt überlege ich mir, welchen positiven Gegenwert ich in mir empfinde, der durch die Feigheit meines Kollegen gekränkt, enttäuscht oder verletzt wird. Was fällt mit da auf Anhieb ein? Mut. Der kommt wieder als Tugend/Stärke oben rechts ins Quadrat.
Das, was ich mir also von meinem Kollegen wünschte, weil es ein mir als sehr wichtiger gesellschaftlicher Wert erscheint, war der Mut, seinem Chef gegenüberzutreten und eine Ungerechtigkeit zu korrigieren, kraft seines Arbeitsvertrages und des Gesetzes.
Und auch, damit diese missbräuchliche Marotte irgendwann mal ein Ende hat. (Sie merken vielleicht, da steckt bei mir eine Menge „Kampf gegen Ausbeutung“ drin. Aber zurück zum Mut.)
Und wenn es eine „übertriebene Vorsicht“ (= Feigheit) gibt, dann gibt es selbstverständlich auch einen „übertriebenen Mut“, den Übermut. Auch als Leichtsinn bekannt. Der Übermut füllt jetzt also die untere rechte Ecke, und das Wertequadrat ist komplett.
Gut. Ich beame mich mal kurz 15 Jahre zurück in das Gespräch mit meinem japanischen Kollegen. Jetzt bin ich bereit dafür, seine Entscheidung, nicht aufzumucken, nicht sofort mit einem negativen Wert zu besetzen, was das Gespräch sehr konfliktgeladen macht oder sogar abwürgt, sondern ihn zu fragen, was ihn bei seiner Entscheidung bewegt. Welche Werte für ihn hinter seiner Entscheidung stehen.
Jetzt kann man natürlich sagen, Feigheit kann man nicht relativieren. Feige ist feige, und aus. Aber damit werten wir aus unserer subjektiven Erfahrungs- und Wertewelt heraus.
Und man kann die eigene Bereitschaft, sich auf solche Relativierungen einzulassen, mit einer einfachen Frage abwägen: Wie wichtig ist mir diese Freundschaft, diese Beziehung, der Kontakt zu dieser Person?
Bzw. im beruflichen Umfeld: Wie wichtig ist mir ein angenehmer und respektvoller Umgang mit einer Person, mit der ich zwangsläufig einen Großteil meiner Lebenszeit verbringe?
Und manchmal erkennt man auch Beweggründe, die man gar nicht erwartet hatte. Als ich vor zehn Jahren in Tokio meine Frau kennenlernte, hatten wir in Bezug auf ihr Arbeitsklima (sie machte übrigens keine Überstunden) ein Gespräch über den japanischen Wert Wa, das Ideal eines harmonischen Miteinander, geprägt durch Vorsicht, Umsicht und Selbstlosigkeit im Umgang mit anderen und mit bestehenden Normen.
Auf dieses Wa hatte ich mich lange überhaupt nicht einlassen können. Es wirkte auf mich zu anti-individualistisch. Tja, und ich merke gerade, da entsteht jetzt wie von selbst ein neues Wertequadrat. Das können Sie bestimmt auch vervollständigen – die Schlagwörter habe ich Ihnen ja schon geliefert. Schauen Sie nochmal.
Die Offenheit für die Wertestrukturen anderer – und die Fähigkeit, sie zu verstehen und nachzuempfinden – entstehen erst, wen man gelernt hat, die eigenen Werte in einem Gespräch nicht wie einen Rammbock einzusetzen, sondern differenzierter zu betrachten.
Und dabei hilft das Wertequadrat.
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